Page 6 - Kindersinfonie
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als Violinist, Sänger oder vielleicht durch die Einstudierung des Chores. Zwischen
Klöstern bestand damals die rege Gewohnheit, Notenmaterial auszutauschen. Das
Inntal war eine stark frequentierte Durchzugsstraße, nicht zuletzt für Künstler, so
daß auch von daher es keinem Zweifel unterliegen kann, daß Paluselli als Vorlage
für seine Abschrift der Kindersinfonie ein Autograph oder eine Kopie aus Stift
Fiecht verwendet haben wird. Angerer könnte bei einem seiner Besuche in Stams
sein Werk selbst dabeigehabt und Paluselli zur Kopie überlassen haben. Für
Paluselli bestand kein Anlaß, nicht den wahren Autor zu nennen. Kommerzielle
oder andere die Rezeption fördernde Gründe für die Verschleierung des
Komponisten waren im Kloster nicht relevant. Paluselli und Angerer wirkten in
ihrem Kloster als Musikerzieher der studierenden Jugend, die in Fiecht - als
vorstellbarem Entstehungsort des Stücks - wie in Stams ursprünglich die ersten
Aufführungen bestritten haben könnte. Das Autograph der Berchtoldsgaden Musick
ist verschollen; es dürfte spätestens 1868 beim großen Klosterbrand in Fiecht, dem
alle Musikalien des Klosters anheim fielen, vernichtet worden sein.
Die Berchtoldsgaden Musick ist im Stamser Bestand ein Unikat dieses Genres.
Schon die Originalität des Werks dürfte für Paluselli ein Anlaß gewesen sein, den
Namen des Autors nicht nur anzugeben, sondern insbesondere korrekt zu
überliefern und damit das Stück als unverwechselbar zu protokollieren.
Die wahrheitgetreue Präsentation einer Komposition bildete im Stift Stams einen
Grundsatz, dem auch für die Kindersinfonie Geltung zugesprochen werden
kann. Durch die unmittelbare Beziehung Angerer - Paluselli bzw. Stift Fiecht -
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Stift Stams war die Gewißheit der korrekten verfertigung des Notenmaterials von
vornherein gegeben; andernfalls hätte Paluselli bei Angerer selbst oder im Stift
Fiecht Erkundigungen eingeholt und eine Korrektur angebracht. Das enge
Verhältnis Angerer - Paluselli spiegelt sich auch darin, daß Paluselli außer der
Berchtoldsgaden Musick eine Messe Angerers neu für Stams erwarb oder zu einem
Oratorium des Fiechter Kollegen als Einlage einen Chor mit Orchesterbegleitung
komponierte.
[11]
Nicht zuletzt liefert der Titel Berchtoldsgaden Musick der Stamser Handschrift
einen entscheidenden Hinweis auf ihre Authentizität: Berchtesgadener Musik war
gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein Genretyp beliebter Unterhaltungsmusik und
zwar in einer spezifischen Besetzung, die in einem Berchtesgadener Bericht von
1791 angeführt ist: Bei dieser Musik haben Violins, Bratschen und Contrabaß die
Hauptstimmen, die Nebenstimmen aber werden mit verschiedenen, in dem hiesigen
Lande verfertigten Pfeiferln, Ratschen, Trompeterln, Kuckuckmaschinen, alles auf
Noten und Takt besetzt. Somit entsprechen in der Stamser Handschrift Titel und
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Standardbesetzung einander, was für andere Quellen nicht zutrifft.
Neben solch äußeren Umständen, die die Annahme der Autorschaft Angerers
bereits dringlich nahelegen, ist zu fragen, inwieweit sich die Berchtoldsgaden
Musick, ein Kleinod und abseits der Konvention eines komponierenden